Zum Hauptinhalt springen

„Unendliche Bibliothek“ ist ein Sinnbild für den Wissensschatz der Welt

Der US-Künstler Mika Johnson hat sich die virtuelle Welt zu eigen gemacht. Nach dem Erfolg seiner VRWandlung – einer Adaption von Kafkas „Metamorphosen“ – lädt er jetzt ein, in der „Unendlichen Bibliothek“ die Welt anders zu entdecken.

Literatur, Stadtbibliothek

Mika, Sie haben an vielen Orten gelebt. Wo ist Ihre Heimat?
Meine künstlerische Heimat ist Tschechien. Ich habe das Glück, dass ich mich in Prag sehr wohl fühle. Hier habe ich auch viele Freunde, die Animatoren sind. Das ist das Handwerk, zu dem ich am meisten aufschaue, auch im Kino. Es ist sehr praxisnah und zugleich sehr zeitaufwändig. Man arbeitet vielleicht ein Jahr lang mit einem großen Team an etwas, das am Ende 15 Minuten zu sehen ist, schafft damit aber außergewöhnliche Welten. Außerdem ist Franz Kafka einer meiner Lieblingsautoren. Ich bin ein Fan des Magischen Realismus. Auch diese österreichisch-ungarische Kultur der Habsburger Zeit schwingt hier noch mit. In Amerika konnte ich das nicht nachvollziehen, aber als ich hierherkam, sofort.

Ist man an anderen Orten ein anderer Mensch?
Überall lernt man etwas von den verschiedenen Kulturen. In Amerika lernt man das Träumen. Vom Leben in Deutschland habe ich mehr Direktheit und Ehrlichkeit gelernt, mehr ich selbst zu sein. Ich glaube, dass Mitteleuropa ein eigenes Betriebssystem hat, was die Ehrlichkeit anbelangt. Das genieße ich sehr. Japan ist sehr faszinierend und komplex, aber hier trägt man zum Beispiel in der Öffentlichkeit ein anderes Gesicht als im Privaten.

Indien war der Ort, an dem die Idee zur „Unendlichen Bibliothek“ geboren wurde.
Wir haben bei Kafkas Metamorphosen bereits mit dem Goethe-Institut zusammengearbeitet. Als wir den Film in Neu-Delhi zeigten, kam ich ins Gespräch mit Thomas Meyer, dem Leiter Informationssysteme dort. Wir sprachen auch über Bibliotheken und stellten beide eine große Leidenschaft für Bibliotheken fest. Er fragte mich, ob ich nicht auch eine VR-Bibliothek gestalten könnte. Und tatsächlich war mir der Gedanke durch die Kurzgeschichte „Die Bibliothek“ von Jorge Luis Borges, ebenfalls ein Vertreter des Magischen Realismus, auch schon gekommen. Diese Geschichte hat mich immer sehr fasziniert, vor allem, weil ich auch Religionswissenschaften studiert habe und die Vorstellung einer unendlichen Bibliothek einfach großartig finde

Was macht die Bibliothek unendlich? Die Anhäufung von Wissen?
Ich glaube, es ist eine großartige Metapher für all das Wissen in der Welt. Immer wieder versuchten Menschen, es zu sammeln. Man denke nur an die Bibliothek von Alexandria – die bedeutendste antike Bibliothek, die im 3. Jahrhundert v. Chr. entstand. Es ist sehr menschlich zu denken, dass wir tatsächlich das gesamte Wissen der Welt sammeln könnten. Aber ich glaube nicht, dass es möglich ist. So sind Thomas und ich auf die Idee gekommen, unsere Unendliche Bibliothek nicht in ihrer traditionellen Form darzustellen. Wir wollten uns auf Wissensschaftssysteme im Allgemeinen stützen, die aufgrund ihrer Natur nicht in einem Buch dargestellt werden können.

Wie darf man sich das vorstellen?
Ich kann etwas über Nürnberg lesen, mir Dokumentationen anschauen, Podcasts darüber hören. Und trotzdem wird es ganz anders sein, wenn ich hierherkomme. Die Gerüche und Geräusche der Straße, der Geschmack des Essens, die Art der Menschen – das muss ich erleben. Zwar rieche ich auch bei VR die Stadt nicht und schmecke das Essen nicht, aber ich komme der Realität damit dennoch viel näher.

In einem Teil Ihrer Unendlichen Bibliothek geht man durch ein Portal und kommt an die Küste Polynesiens…
Ich habe in dieser Virtuellen Realität diese riesige Höhle in VR erschaffen, in der jeder etwas anderes entdecken kann, sodass zwei Menschen darin nicht unbedingt dasselbe erleben. Es gibt insgesamt drei Bibliotheken: eine über polynesische Navigation, eine über europäische Alchemie, eine über südindisches Puppenspiel. An der polynesischen Küste etwa kann man sich treiben lassen, bis man diese Muscheln am Strand findet, die einen Kompass bilden. In verschiedenen Teilen Polynesiens wurden die Sterne kartiert und danach tatsächlich Kompasse an den Strand entworfen. In der Virtuellen Realität kann man die Muscheln berühren und dann schweben sie nach oben. Außerdem hört man den hawaiianischen Namen für diesen Teil der Konstellationen. Plötzlich ist man auf dem Meer, die Wellen verändern sich, Vögel fliegen über einem…

Eine reale und zugleich fantastische Welt?
Die Idee hier ist, dass die Polynesier den Ozean nicht als eine Sache ansahen, sondern eher als ein Informationssystem. Sie konnten die Wellen und den Seegang lesen, die Flugmuster der Vögel, die Wolkenformationen, die Sterne, und sie hatten eine Art mündliche Kultur, Gesänge und Geschichten, die eingebettet waren. Sie hatten eine ganz andere Erfahrung. Wir geben den Besuchern der Unendlichen Bibliothek nur eine Momentaufnahme.

Ist es Kunst oder auch eine Zukunftsvision für das Bibliothekswesen?
Wir müssen unsere Beziehung zu verschiedenen Wissenssystemen aufgrund ihrer Komplexität neu überdenken. Und je mehr wir ihre Komplexität verstehen, desto mehr können wir Teile davon mit anderen teilen. Vielleicht würden wir in einer echten Bibliothek nur einen flüchtigen Blick darauf werfen. Aber wenn Menschen eine solche Kultur erleben, werden sie sich möglicherweise mehr begeistern können und noch den Podcast mit unserem hawaiianischen Sänger und unserem Experten für polynesische Geschichte hören wollen. Vor allem junge Menschen haben heute einen anderen Zugang zu Wissen. Die Welt der Texte gerät für sie zunehmend in den Hintergrund. VR ist ein weiteres Element des Geschichtenerzählens oder um einen ersten Impuls zu geben, der Menschen dazu animiert, mehr über etwas wissen zu wollen.

Ist diese Art des Wissenstransfers bereits in der Realität angekommen?
Ich habe mich auf dieser Reise sehr von einer Bibliothek namens Audi inspirieren lassen. Sie steht in Helsinki. Im zweiten Stock des Audi gibt es keine Bücher, sondern VR-Räume. Hier kann man Videospiele oder ein Musikinstrument spielen. Es gibt Mischpulte und Studios, in denen man ein Album abmischen kann. Sie haben 3D-Drucker, Nähmaschinen, Küchen mit Kameras, die man bedienen kann, während man mit seinen Freunden ein Gericht kocht, das man dann am Abend als Kochshow auf YouTube veröffentlichen kann. Es geht also weit über die Vorstellung einer traditionellen Bibliothek hinaus. Auch wenn ich meinen Kopf immer noch am liebsten in Bücher stecke – ich mag die Idee. Die Erweiterung der Bibliothek mit Technologien ist eine andere Form der Erfahrung. Für mich ist die Bibliothek vielleicht unsere wertvollste Institution.

Nutzen Sie noch eine „echte“ Bibliothek?
Bibliotheken sind für mich sozusagen alles. Ich bin auf einer kleinen Farm in Ohio aufgewachsen, meine Eltern hatten nur sehr wenige Bücher, überhaupt wenige Medien. Meine Bibliothek war vor allem die Natur, in der ich aufwuchs. Gleichzeitig hatten wir eine tolle Bücherei in der Kleinstadt. Jede Woche habe ich mir hier Bücher geholt. Und habe damit auch nicht aufgehört, als ich aufs College ging. Viele Bücher, die heute noch wichtig für mich sind, habe ich oft per Zufall entdeckt.

Apropos: Spielt Kafka in der Unendlichen Bibliothek eine Rolle – sozusagen als Selbstreferenz?
Meine Interpretation von Kafka enthält ein bisschen Horror: Die Musik des Stücks, die Gefühle, alles fühlt sich wirklich irgendwie gruselig und seltsam an. Die Unendliche Bibliothek soll ein Ort sein, der warm, schön und hoffnungsvoll ist.

Interview: Anja Kummerow
Fotos: Mika Johnson

Info

Geboren in Kalifornien, aufgewachsen in Colorado und auf einer Farm in Ohio: Der Multimedia-Künstler Mika Johnson, in dessen Werken sich viel um Träume, Mythen und Riten rankt, ist ein Wandler zwischen den Welten. In seiner Heimat Ohio drehte er 15 kurze Dokumentarfilme über die Menschen in seiner und den umliegenden Gemeinden: „Die Amerikaner“, die viel Anerkennung und großen Erfolg einbrachten. Nach Stationen in Japan, Prag, Berlin und New York lebt und unterrichtet Mika Johnson heute in Prag. Damit schließt sich ein Kreis. Schon in Ohio beschäftigte sich Johnson intensiv mit dem Prager Autor Franz Kafka. Zu seinen Mixed-Reality-Projekten gehört VRWandlung, eine Adaptation von Franz Kafkas „Metamorphosen“. Das neueste Werk des 47-Jährigen heißt „Die Unendliche Bibliothek“. Es ist vom 26. April bis 6. Mai jeweils Montag bis Freitag von 15 bis 18 Uhr und Samstag von 13 bis 16 Uhr in der Stadtbibliothek Zentrum auf Ebene K1 erlebbar.
Der Eintritt ist frei. Die Eröffnung ist am Dienstag, 25. April um 18.30 Uhr. Bitte melden Sie sich hierfür an über: stb-themenwelten@stadt.nuernberg.de

Ein Kooperationsprojekt der Stadtbibliothek im Bildungscampus, dem Amt für Internationale Beziehungen der Stadt Nürnberg und dem Goethe-Institut. "Die Unendliche Bibliothek" wurde produziert vom Goethe-Institut in Kooperation mit Daisy with Riders und High Road Stories.  

Wenn Sie den Artikel mögen?

Teilen Sie den Artikel mit Ihren Freunden

Verwandte Nachrichten