Bei Christine Keßler sind lädierte Klassiker in besten Händen
Buchbinderin repariert mit Spatel, Japanpapier und Geduld den Bestand
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Normalerweise nutzt eine Zahnarzthelferin den Spatel, um Zahnstein vom Gebiss des Patienten zu entfernen. Doch Buchbindermeisterin Christine Keßler kann das schmale Werkzeug aus Stahl ebenfalls gut gebrauchen: Damit lässt sich beispielsweise ein gebrochener Buchrücken leichter behandeln. Eine Schusterahle für Fadenheftungen ist ebenso im Einsatz wie eine feine Zeckenpinzette, mit der man Fasern für die Reparatur von Gedrucktem gut fassen kann. Daneben gehört ein Falzbein zu ihrem Werkzeugkasten. Das wichtigste Werkzeug jedoch sind ihre geschickten Hände. Die Mitarbeiterin der Stadtbibliothek Nürnberg kümmert sich mit einer Kollegin vor allem um Werke ab 1850, die in der historisch-wissenschaftlichen Abteilung stehen. Für Bücher aus der Zeit davor sind zwei Restauratorinnen zuständig.

Reparaturbedürftige Exemplare aus der normalen Ausleihe hat Keßler selten in der Hand: „Es lohnt sich meistens nicht. Eine Ersatzanschaffung ist oft billiger als meine Arbeitszeit“, sagt die Erlangerin. Außerdem gebe es spezialisierte Unternehmen, die mit Dumpingpreisen bundesweit für Bibliotheken tätig sind. In Nürnbergs Stadtbibliothek wird Stück für Stück betrachtet, welcher Aufwand nötig ist: Muss man die Klebebindung erneuern, einen gebrochenen Buchrücken heilen, eingerissene Blätter mit Japanpapier stabilisieren? Manchmal kann man mit kleinen Eingriffen das Leben eines Buches um bis zu 30 weitere Ausleihen verlängern.
Auf ihren Arbeitstisch kommen nur ausgewählte Exemplare. Derzeit kümmert sie sich um zerrissene Notenblätter aus dem Vorlass eines hiesigen Zithermusik-Sammlers. Viel Geduld und eine ruhige Hand sind nötig, um die vom
Säurefraß bräunlichen, brüchigen Seitenstücke wieder zusammenzusetzen. Mit ein wenig Feuchtigkeit glättet sie das Original. Aber Vorsicht: Man darf nicht zu viel Flüssigkeit verwenden, sonst gibt es Wasserflecken. Dann klebt sie die Risse sorgfältig mit Kleister und langen, feinen Fasern eines Maulbeerbaums, die zu Japanpapier verarbeitet sind. Man braucht schon ein sehr geschultes Auge, um die Bruchstellen noch zu entdecken.

Für ihre papierenen Patienten ist Ausdauer nötig: An acht Seiten einer Zeitung hat die 42-Jährige einen Monat lang gearbeitet. „Manchmal verfluche ich die Sisyphusarbeit“, räumt Keßler ein, „aber dann ist es auch wieder ein tolles und befriedigendes Gefühl, wenn man etwas geschafft hat.“ Nur darf die Fachfrau nicht daran denken, wie viele Originale der historisch-wissenschaftlichen Abteilung noch im Depot auf sie warten: „Das ist Arbeit für fünf Buchbinder-Leben“, meint sie und konzentriert sich daher auf die Bücher, die bereits in ihrer Werkstatt neben der Nürnberger Katharinenruine auf sie warten.
Die Liebe zu Büchern hat sich bei Christine Keßler bereits in der Schule entwickelt. Zwar wollte sie sich nach dem Fachabitur beruflich zunächst in Richtung Informatik oder Maschinenbau orientieren. Doch dann erinnerte sie sich an das Schulfach Werken: Die Arbeit mit Papier und das Buchbinden hatten ihr viel Spaß gemacht. Die Lehre als Buchbinderin hat sie in Bamberg absolviert. In dieser Branche werden die ausbildenden Handwerksmeister immer weniger: Neben ihrer Arbeitsstelle hatte sie nur zwei weitere Spezialisten in Nürnberg sowie einen in Fürth ausgemacht. Die Arbeit in der Stadtbibliothek empfindet sie als Glücksfall: „Es herrscht eine sehr gute Atmosphäre unter den Kolleginnen und ich kann die Teilzeittätigkeit gut mit meinen zwei Kindern vereinbaren.“
Auch privat ist sie eine eifrige Buchleserin: Science-Fiction-Romane, Fantasy-Bücher und Krimis haben es ihr besonders angetan. Sie achtet darauf, dass sie zu Hause im Regal auch optisch gut aussehen. Schön gebundene Werke sind ihr wichtig – bis auf ihre Kochbücher. „Die sehen eben aus wie Kochbücher im Gebrauch, manche müsste ich mal reparieren“, merkt Keßler lächelnd an.
Text: Hartmut Voigt
Fotos: Claus Felix