Schüchterne oder stürmische Bewegungen werden zu Klängen
Mit dem MotionComposer schafft die Musikbibiothek neue Möglichkeiten
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Helles Vogelgezwitscher schallt durch den Raum. Plötzlich scheinen Frösche zu quaken. Ein paar Augenblicke später klingt es nach plätscherndem Wasser, grollendem Donner, röhrenden Motorrädern, schließlich nach Gitarre, Harfe, Vibraphon und Orgel. „Willkommen auf der klingenden Etage, der Musikabteilung der Nürnberger Stadtbibliothek“, begrüßt Claudia Pollety an diesem Vormittag die Mädchen und Jungen einer Nürnberger Hortgruppe.
Es locken tolle Instrumente: Mit den Füßen auf dem Bodenklavier spielen – einige Kinder haben das schon mal ausprobiert. An diesem Vormittag aber können sie in der Leseecke etwas ganz Neues entdecken: Mit Linien auf dem Boden hat die Musikpädagogin zwei Felder markiert. Reihum dürfen die Kinder darin hopsen oder die Arme schwingen, langsam oder schnell hin- und herlaufen oder tanzen. Und wie von Zauberhand schwillt der Ton an und ab, kommt Schwung in den Rhythmus und die Klänge werden heller oder dunkler und steigen oder fallen, mal energisch, mal ganz zart.
Aber wie kommt das? „Ich glaube, ich habe eine Idee“, meldet sich Selina. Dass das irgendwie mit dem weißen Apparat zwischen den Lautsprechern auf dem Tisch an der Seite zu tun hat, haben längst alle Kinder begriffen. Die Achtjährige hat aber genauer hingesehen: „Da sind zwei Öffnungen und dahinter sind Kameras“, vermutet sie. „Ganz genau“, lobt Claudia Pollety. „Die verfolgen eure Bewegungen – und damit beeinflusst ihr über einen Computer die Töne.“ Nun ist der Bann vollends gebrochen, und alle wollen mal ausprobieren, wie es klingt, wenn sie in dem Aktionsfeld herumtoben.
MotionComposer ist der treffende Name des Geräts, das Claudia Poletty über ein Tablet steuert und mit dem sie die Kinder zu den Bewegungen anregt. Tatsächlich erfassen elektronische Augen die Umrisse der Körper und ihre Bewegungen und setzen das über eine Software ganz individuell in Töne um. Die holt sich der Computer aus einem prall gefüllten Soundarchiv. Die Kinder erleben unmittelbar und intuitiv, wie sie diese beeinflussen und steuern können. Das fördert und stützt die Sinneswahrnehmung und Körperbeherrschung. Die ganze Bandbreite möglicher Bewegungen ist gefragt, von schüchtern und verhalten bis zu stürmisch und extravertiert.
Das zu erleben, macht nicht nur Kindern Spaß: „Die Einsatzmöglichkeiten des Geräts sind breit gefächert“, sagt Polletys Kollege Florian Wünsch. „Es ist auch besonders geeignet, um Leute in Bewegung zu bringen, denen das nicht so leichtfällt.“ Zum Beispiel Menschen im Rollstuhl oder Bettlägerige. In der Ultra-Feineinstellung erfasst das sogenannte Motion Tracking schon ein bloßes Augenzwinkern. So kann eine Musikgeragogin das Gerät in Nürnberg sogar in ihrer Arbeit mit schwer pflegebedürftigen Bewohnerinnen und Bewohnern des NürnbergStift einsetzen.
Entwickelt hat den der frühere US-Tänzer Robert Wechsler, der wiederholt auch in der Nürnberger Tafelhalle zu erleben war und schon in seiner früheren Karriere mit Videotechnik operiert hatte. Im Zusammenspiel mit Ingenieuren, Bibliothekaren und Pädagogen entstand daraus die neue Anwendung. Wechsler hat dafür eine eigene Firma gegründet. „Die therapeutische Anwendung gehört natürlich nicht zu unserer Kernkompetenz in der Bibliothek", erläutert Florian Wünsch. „Aber die Kooperation mit relevanten Einrichtungen hilft uns, neue Zielgruppen anzusprechen.“
Den Anstoß hatten die Nürnberger nicht von ungefähr bei einer Bibliothekars-Tagung erhalten, bei der die Kolleginnen und Kollegen aus Dresden das Gerät vorstellten. Freilich: Die Technik hat mit rund 25.000 Euro einen stolzen Preis und wurde über Fördermittel zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention finanziert. Da das Gerät von einer Fachkraft bedient werden muss, bleibt es Gruppen nach vorheriger Anmeldung vorbehalten.
Text: Wolfgang Heilig-Achneck